Mein digitaler Zwilling gehört mir

Datenschutz muss im Kommunikationszeitalter selbstverständlich sein. Stattdessen verebbt die Diskussion nach Snowdens Enthüllungen. Was muss noch passieren, damit sich Unbehagen endlich in Protest umsetzt?

Das ist doch verkehrte Welt. Seit drei Monaten kommt im Rahmen der NSA-Affäre ein schockierendes Detail nach dem anderen ans Licht. Und was macht die Politik? Veranstaltet in aller Seelenruhe einen Wahlkampf, in dem wir uns zwischen fünf verschiedenen Sorten Mindestlohn entscheiden dürfen. Es gäbe wichtige Fragen zu klären. Wie wir im Kommunikationszeitalter zusammenleben wollen. Wer die Macht besitzt. Wie die Starken gezähmt und die Schwachen geschützt werden können.

 

Darauf hat die Regierung keine Antworten. Stattdessen verbreitet sie das lähmende Gefühl, man könne gegen Überwachung im Kommunikationszeitalter ohnehin nichts unternehmen. Wen das stört, der soll sich selbst schützen. Frei nach dem Motto: Wer Facebook, Google, Amazon benutzt oder auch nur auf die verwegene Idee kommt, eine unverschlüsselte Mail zu schreiben, der ist am Verlust seiner Privatsphäre selbst schuld.

 

Eine Aufgabe der Politik

Internetbenutzung als Rechtsverzicht? So funktioniert unser Gemeinwesen nicht. Wenn Missstände, ja Rechtsbrüche in großem Umfang aufgedeckt werden, ist es nicht unsere Aufgabe, etwas dagegen zu unternehmen. Es obliegt der Politik, öffentliche Räume so zu gestalten, dass sich die Bürger darin frei bewegen können. Stattdessen hat der Bundestag in seiner letzten Sitzung vor der Wahl den Antrag der Opposition abgelehnt, auch nur über die NSA-Affäre zu diskutieren. Das verunsicherte Schweigen im Volk nutzt die Regierung, um das Problem für gar nicht vorhanden zu erklären.

 

Das ist die fatale Konsequenz der Überwachungsaffäre: eine grassierende Selbstentmachtung von Bürgern und Politik. Dabei ist der Glaube, die Politik würde keine Gestaltungsräume mehr besitzen, schlicht falsch. So etwas behaupten Regierende, die bei ihrer Arbeit nicht vom Bürger gestört werden wollen, sowie Bürger, die Gründe für ihre politische Abstinenz brauchen. Selbstverständlich ist es möglich, Internetdienstleistern, die auf europäischem Boden agieren, eine Weitergabe von Kundendaten zu verbieten. Man kann dem BND untersagen, täglich im Durchschnitt zwanzig Millionen Telefonverbindungsdaten an die NSA zu übermitteln. Man kann ein internationales Datenschutzabkommen vorantreiben und in die eigene Infrastruktur investieren, damit die digitale Kommunikation nicht über amerikanische Server laufen muss. Man kann politisch und diplomatisch darauf reagieren, dass die NSA Unterseekabel anzapft und weltweit mehr als achtzig Botschaften und Konsulate sowie Büros der Europäischen Union und der Vereinten Nationen verwanzt.

 

Mit Kalter-Krieg-Logik kommt man nicht weiter

Dass die Vereinigten Staaten ein befreundetes Land sind, ändert nichts an der Sachlage. Angesichts der automatisierten Massenüberwachung kommt man mit Kalter-Krieg-Logik nicht weiter. Da sitzt nicht mehr der einzelne Stasi-Mann auf dem Dachboden und verliebt sich ein bisschen in die schöne Regime-Gegnerin. Vielmehr schöpfen Maschinen unvorstellbare Mengen von Daten ab und verbinden sie miteinander, um möglichst jedem Menschen ein digitales Ebenbild an die Seite zu stellen. Einen unsichtbaren Zwilling, der jederzeit für Befragung durch Algorithmen zur Verfügung steht.

 

Es gibt Anzeichen, dass die Menschen ein wachsendes Unbehagen angesichts der Ausspähpraktiken verspüren. In Umfragen wird die „Aufklärungsarbeit“ der Regierung als ungenügend bezeichnet. Trotzdem bleibt ernstzunehmender Widerstand aus. Wenn die Menschen wenigstens sagen würden: Wir wollen das so. Big Data dient unserer Sicherheit, unserer Bequemlichkeit, unserem Narzissmus. „Freiheit“ ist doch voll letztes Jahrhundert. Ein Auslaufmodell. Braucht keiner mehr.

 

Aber niemand spricht sich deutlich für Überwachung aus. Genauso wenig wie dagegen. Es herrscht - ja was? Ein unklares Gefühl der Überforderung, genährt von der Angst, die technischen Aspekte nicht ausreichend zu verstehen.

 

Ein Prototypus für Zeitreisen

Es ist ein Missverständnis zu glauben, die Verteidigung der Grundrechte verlange ein abgeschlossenes Informatikstudium. Man muss Kernspaltung nicht begreifen, um gegen Atomkraft zu sein. Man muss keinen Kampfjet fliegen können, um Bombenabwürfe zu kritisieren. Die aufgeworfenen Fragen sind nicht technischer, sondern rechtlicher und moralischer Natur. Sie reichen ebenso tief an die ethischen Grundlagen unseres Zusammenlebens heran wie Diskussionen um Schwangerschaftsabbruch, Präimplantationsdiagnostik oder den freien Willen. Wenn jeder einen digitalen Zwilling besitzt, um den sich Wirtschaft, Sicherheitspolitik und Sozialleben drehen - was ist dann der Mensch? Wer besitzt die Hoheit über unsere individuellen Biographien?

 

Was Snwoden aufgedeckt hat, ist der Prototypus einer Zeitmaschine, mit der man in Vergangenheit und Zukunft reisen kann. Datenfusion dient der Beantwortung von zwei Fragen: was einer getan hat und, noch wichtiger, was er tun wird. Ein Algorithmus berechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Frau innerhalb der nächsten drei Monate ein neues Handy kauft. Oder schwanger wird. Oder ein Verbrechen begeht. Wenn die algorithmische Prognose ergibt, dass diese Person mit 95 Prozent Wahrscheinlichkeit in Kürze ihren Erbonkel umbringen wird - wäre die Polizei nicht verpflichtet, sie zu verhaften, um das Verbrechen zu verhindern?

 

Mit Blick auf derartige ethische Dilemmata muss offen diskutiert werden, ob wir die Verwendung solcher Techniken durch Ermittlungsbehörden zulassen wollen. Ob bestimmte Formen von Datenfusion nicht verboten werden müssen. Die Annahme, man könne dagegen ohnehin nichts unternehmen, weil technische Möglichkeiten immer zum Einsatz kommen, trifft nicht zu. Polizei, Geheimdienste und Militär dürfen bestimmte Waffentypen nicht verwenden. Das Aufstellen von Videokameras in Privatwohnungen ist unzulässig, obwohl dadurch eine Menge Verbrechen aufgeklärt und verhindert würden. Es hat auch nicht jeder Bürger einen GPS-Sender am Handgelenk, damit die Behörden immer genau wissen, wo er ist. Nicht weil das technisch unmöglich wäre. Sondern weil wir so nicht leben wollen.

 

So verworren die Lage scheinen mag - im Grunde liegt auf der Hand, welche Position wir Bürger zu vertreten haben. Wir müssen darauf bestehen, Eigentümer unserer digitalen Zwillinge zu bleiben. Zum einen, weil die Daten bares Geld wert sind und uns gehören. Zum anderen, weil das digitale Abbild Teil der modernen Identität und damit Teil der geschützten Menschenwürde ist.

 

In einer Demokratie ist es müßig, den Regierenden vorzuwerfen, dass sie nicht handeln, solange sich das Volk im politischen Phlegma befindet. Ein Big-Brother-Szenario wurde aufgedeckt, alle Essays und Kommentare sind geschrieben, in zwei Wochen ist Bundestagswahl. Was muss noch passieren, damit sich Unbehagen in Protest umsetzt? Warum haben alle das Gefühl, man könne nichts tun, außer vielleicht seinen Facebook-Account abzumelden? Es gibt Demonstrationen, zu denen man gehen, Abgeordnete, an die man schreiben, Parteiprogramme, die man lesen kann. Es gibt die ganze Palette politischer Partizipation. Trotz aller Einladungen der Regierung zum kollektiven Vergessen wird sich das Thema nicht von selbst erledigen. Es wird immer wieder zu uns zurückkommen, aufgrund der rasanten technischen Entwicklungen in verschärfter Form. Datenschutz ist im Kommunikationszeitalter das, was Umweltschutz für die Industrialisierung war. Ein Korrektiv zur Begrenzung der Kollateralschäden einer technischen Revolution. Es wird höchste Zeit, die Herausforderungen anzunehmen.

 

Quelle: faz.net